Pressburgerisches Vaterunser

Die Altsstadt von Bratislava ist eiskalt, grau und menschenleer an diesem Sonntag im Februar. Ich komme zu Fuß zur Heiligen Messe um 7:45 Uhr. Als Teenager ging ich den Weg oft um diese Zeit – um die Ecke ist der Subclub, Standort der osteuropäischen Technoszene.

Schon in der Judengasse sehe ich den hohen Turm des gotischen St.-Martins-Doms. Auf der Spitze, dem vergoldeten Kissen, thront eine 300 Kilogramm schwere Replik der ungarischen Königskrone. Zwischen 1563 und 1830 diente der Dom als Krönungskirche. Auch Maria Theresia wurde hier als erste Habsburgerin gekrönt – übrigens nicht zur Königin, sondern zum König.

Der Verteidigungsturm war früher ein Teil der Stadtmauer. Heute führt die Stadtautobahn vier Meter am Dom vorbei; tragisches Erbe des antisemitischen Realsozialismus. Siebzig Jahre stand neben der größten katholischen Kirche der Stadt eine im maurischen Stil erbaute Synagoge. 1967 wurde sie abgerissen.

Als die Sowjets 1968 während ihrer Invasion in den Domkatakomben eine kontrarevolutionäre Zelle suchten, wurden bei einem absurden Angriff einmalige Zeugnisse der erlebnisreichen Geschichte des Viertels vernichtet.

Zur Messe auf Deutsch haben sich nur 25 Leute versammelt, die meisten sind älter als 60 Jahre. Das Innere der Kirche aus dem 15. Jahrhundert ist mit seinen fast 70 Metern Länge zu geräumig für die Reste der deutschsprachigen Gemeinde.

Noch vor dem zweiten Weltkrieg war es in Bratislava selbstverständlich, die Sprachen Deutsch, Ungarisch oder Jiddisch mehrmals am Tag zu wechseln. Bis 1918 hieß die Donaumetropole Pressburg. Slowakisch setzte sich als erste Sprache des Landes erst nach dem kommunistischen Putsch 1948 durch.

Vor wenigen Wochen hat sich das Parlament offiziell von der Mehrsprachigkeit verabschiedet, lediglich English ist Pflichtfach in der Grundschule.

Der junge Pater Peter Slobodník predigt als wäre das Gotteshaus voll. Sein schönes Deutsch ist nahezu akzentfrei. Er kommt aus Kežmarok (zu Deutsch Käsmark), studierte in Österreich im Seminar. Seine Gemeinde freut sich offensichtlich, dass die Stadt am Dreiländereck mit Ungarn und Österreich einen solchen Pfarrer hat.

Die Kerzen leuchten, es wird viel mitgesungen, schon nach wenigen Minuten fühle ich mich zugehörig. Die Akustik im dreischiffigen Raum ist einzigartig, den Klang der historischen Orgel hat Franz Liszt höchstpersönlich geprüft.

Erst wird von zwei charmanten Damen auf Pressburgerisch aus der Bibel vorgelesen. Thema der Predigt sind die Gebote Gottes, vor allem 5 bis 8. Im morbiden Beginn der Predigt erinnert der Pater an seine Besuche an den Totenbetten in Krankenhäusern: „Es ist zu spät, kurz vor dem Sterben das Leben ändern zu wollen“, so Slobodník.


Die Zehn Gebote bekam Moses direkt von Gott. Das sechste Gebot schützt das Kostbarste, was wir haben: das Leben. Die Ehe nicht brechen zu dürfen klingt nach Gefängnis. Für mich nicht, weil die Trennung sicher Wunden und Narben hinterlassen würde. Das achte Gebot ist die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens, die Falschheit sind nicht nur die ausgesprochenen Worte, sondern auch die heimlichen Gedanken.

Schnell ist mir das zu oberflächlich und fade. Slobodníks Deutsch ist gut, aber nicht gut genug für die theologischen Betrachtungen. Er wird unsicher und kommt hastig zum Schluss – zur Kraft der Liebe, die auch die Freiheit bedeutet, zur inneren Treue des Herzens im Glauben. Denn Gott ist gegenwärtig und auch in diesem Moment mit uns. Noch ein Vaterunser und es ist vorbei.

Die alten Pressburger sind schon unter sich und lachen viel. Ich verweile noch kurz im Seitenschiff vor der ältesten erhaltenen Blei-Skulptur aus dem mittelosteuropäischen Raum. Georg Raphael Donner schuf sie circa 1735. Sankt Martin (ungarischer Erzbischof Imre Esterházy) auf dem Pferd zerschneidet seinen Mantel, um ihn mit dem Bettler zu teilen.

18 Ochsen und 200 Menschen zogen das Kunstwerk drei Tage lang auf Karren durch die Strassen Pressburgs in die Kirche. So gut war sie mal, die ungarisch-slowakisch-österreichische Freundschaft.

Die Welt, 14. Februar 2011

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Ein Gedanke zu “Pressburgerisches Vaterunser

  1. nteressanter Artikel
    wurde die Synagoge schon 1967 abgerissen oder erst 1968? aber das ist eigentlich mehr oder weniger zweitrangig
    abgerissen wurde sie und ein Teil der Altstadt mit
    jedenfalls die Hälfte vom Fischplatz, rybne Namestie
    wo eine Bierbrauerei stand, es wurde Hopfen auf Lastwägen gebracht -am Boden ist dann die Straßenbahn darübergefahren und selten ein Auto und es hat eigen und gut gerochen – in der Bierbrauerei war der Filmklub untergebracht, wo auch zum Teil westliche Filme! (in den 60 Jahren) gezeigt wurden und eine eher miese Kneipe, andere Gerüche und Laute sekretierend
    es war jeder Fleck des Platzes ein Gedicht, mehr oder weniger dicht, laut, riechend, schön, lebendig, geschichts- und kulturträchtig
    Pestsäule in der Mitte
    am Eck Richtung Donau und Vydrica ein Gebäude des Musikkonservatoriums, dahinter der Kinderspielplatz und die Donaupromenade
    viele Roma (Tzigeuner damals genannt), mehr oder weniger siehe oben
    ein Markt, weniger Fische, mehr Gemüse
    eine Parkallee, die direkt zur Oper führte und immer noch führt, mit einer Statue von Schwesterlein und Brüderlein(als) Reh
    eine Bücherei rechts hinter einem kleinem Park mit der Buste von Hummel
    kein protziger Hotelklotz, kein sinistrer Busbahnhof, keine Schnellstraße am Dom vorbei
    Eigentlich war der Fischplatz eine Art Pressburger Wiener Graben
    und stellen sie sich nun vor es wird die Hälfte des Wiener Grabens abgerissen und eine Schnellstraße direkt vor dem Stephansdom angelegt
    Das wurde in Bratislava gemacht, damit der Sozialismus schneller, wohin?fährt

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