Lesen, schreiben und träumen mit Schülern

Ich besuchte die Neue Mittelschule Lichtenegg. Ich las Auszüge aus meinen Werken. Ich erklärte, seit wann, warum und wie ich Erzählungen und Romane schreibe und wie eine Übersetzung in eine Fremdsprache entsteht; warum ich Prosa und Theaterstücke ins Slowakische übersetze: Werke von Thomas Mann, Robert Walser oder Dea Loher.

Meine Zuhörer waren 14 bzw. 15 Jahre alt. Viele mussten ihr Land aus politischen oder anderen Gründen verlassen. In Österreich fanden sie eine neue Heimat. Alle Klassen haben meistens aus Jugendlichen mit Migrationshintergrund bestanden, ich schätze, so siebzig Prozent. Nur sehr wenige lesen Bücher. Kein Wunder. Auch ihre Eltern lesen kaum.

Fast eine Million Österreicher kann nur unzureichend lesen (OECD-Studie). In der Slowakei ist die Situation ähnlich. Doch die Leidenschaft für Geschichten gibt’s. Deswegen habe ich den Schülern die Botschaft vermittelt:

Wenn man in der Sprache des neuen Landes, in dem man lebt, schreiben kann, sich ausdrücken kann, dann kann man mitreden und eigene Meinungen äußern: Schreibt, so viel ihr könnt! Schreiben ist lebensnotwendig. Lesen auch!

Die anschließenden Gespräche gehörten zu den Höhepunkten meines Aufenthaltes. Wir kamen ziemlich nahe. Ich erzählte auch von Ängsten und Sorgen meines Autorenlebens, hörte zu, als die Schüler ihre Geschichten mitteilten, die eigene Vergangenheit darstellten und mit der Gegenwart verglichen.

Ich klärte auf, wie unterschiedlich das Leben in Österreich und in der Slowakei ist und warum ich trotzdem in meiner Heimat bleibe, warum mir mein Land und seine Zukunft wichtig sind. Ich sagte, wie wenig Lehrer in der Slowakei verdienen (500 Euro brutto!), wie viele Junge arbeitslos sind (31 Prozent), wie schwierig es ist, sich im Literaturbetrieb durchzusetzen – ohne Förderungen.

Ich betonte, dass Schreiben trotzdem den Sinn meines Lebens bedeutet, eine unglaublich schöne und vielfältige Beschäftigung. Kein einfacher Beruf, aber ich wollte keinen anderen haben.

Das literarische Schreiben endlich ohne Zensur: Ich gehöre zur ersten Autorengeneration im Osten Europas, die eine solche Arbeitssituation genießt.

Ich wuchs in Armut, aber privilegiert auf, in einem Haus voller Bücher und mit Eltern, die viel schrieben und lasen. Ich wollte studieren, die Familie unterstützte mich. Bücherlesen war auch mein Weg zur Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache.

Lesen ist Fundament des Studiums und der Bildung. Leider wird mit den Schülern immer weniger über Literatur diskutiert. Gerade deswegen lese ich so gerne in Schulen. Ich versuche, Jugendliche zu ermutigen – zum Nachdenken und zum Träumen.

Die Dieter-Bohlenisierung des Buchmarkts

Die zeitgenössische deutsche Literatur lese ich, seit ich im Jahre 1991 die Bibliothek im Bratislavaer Goethe-Institut entdeckt habe. Die riesige Ansammlung von alten und neuen Werken hat mir den Atem geraubt. Schon auf den ersten Blick war alles anders: die Gestaltung, die Umschläge, die Klappentexte, aber auch die Typographie und der Satz. Ich habe mir in der Bibliothek immer einen Stapel Bücher ausgeliehen und gleich in der Straßenbahn angefangen zu lesen.

Damals war ich fünfzehn. Jetzt bin ich zwanzig Jahre älter und bis heute ein begeisterter Leser. Die deutsche Buchkultur fasziniert mich umso mehr, je besser ich sie kenne, auch wenn man heute, typisch, eher von einem Buchmarkt spricht.

Es hat gedauert, bis ich die Basis des deutschen Kanons durchgelesen hatte: Die Wahlverwandtschaften, Effi Briest, Buddenbrooks, Unterm Rad, Professor Unrat, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Der Prozess, Die Schlafwandler, Der Vorleser, Die Wand, Die letzten Tage der Menschheit, Die Blechtrommel, Homo Faber, Malina. Aber auch Die Entdeckung der Langsamkeit, Schlafes Bruder, Die letzte Welt, Austerlitz, Das Parfüm, Faserland, Die Vermessung der Welt, Agnes, Der Turm oder Sommerhaus, später – aber es bleibt noch viel mehr zu entdecken.

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