
Michal Hvorecky
Totaler Frieden ist kein Frieden
Der Krieg endet, sobald Russland aufhört, Ukraine zu vernichten
Ich war gegen den Irak-Krieg. Sowohl weil er auf Lügen gebaut wurde als auch wegen der katastrophalen Art und Weise, wie er geführt wurde. Gleichzeitig habe ich mich gefreut, als der despotische Diktator und Massenmörder Saddam Hussein und sein verbrecherisches Regime gestürzt wurden.
Ich bin gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und gegen jeden Krieg. Als mich die Einberufungsbehörde als Jugendlichen in Bratislava fragte, warum ich den Militärdienst verweigere, antwortete ich, dass ich Pazifist sei – die postkommunistischen Kommandanten, noch im Warschau Pakt des Ostblock ausgebildet, verstanden das Fremdwort nicht. Ich musste meinen Standpunkt ausführlich erklären.
Ich bin immer noch Pazifist und würde es sehr begrüßen, wenn die Welt lieber in die Kultur und Bildung statt in Waffen investieren würde. Dennoch finde ich, dass die angeblichen Friedensstifter von heute eklatante Heuchler sind, ich bin abgestoßen von ihrem falschen Getue, ich bin angewidert von ihren doppelzüngigen Märschen und immer neuen Petitionen und Manifesten.

Der Krieg ist sofort zu Ende, wenn der Angreifer Russland aufhört, die Ukraine zu vernichten. Der Frieden ist in greifbarer Nähe, es reicht, wenn der Kreml seine Truppen endlich zurückzieht. Die Ukraine wünscht sich nach neun Jahren nichts mehr, als von der aggressiven, imperialen Russischen Föderation endlich in Ruhe gelassen zu werden. Doch Putin weiß sehr wohl, was eine Niederlage für ihn und seine Schergen im Polizeistaat bedeuten würde.
Ukraine als Opfer des Angriffskrieges verdient alle militärische Hilfe, die jetzt von größter Bedeutung ist. Eine Stabilisierung des aktuellen Status quo würde bedeuten, Millionen von Menschen in den okkupierten Gebieten der Ostukraine der Ermordung, Vergewaltigung und Entführung zu überlassen.
Kurz nach der Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad erklärte Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast den totalen deutschen Krieg. Seine Rede wurde fanatisch bejubelt. Der Reichspropagandaminister wollte die immer brutalere Kriegstaktik der verbrannten Erde rechtfertigen und ordnete den zerstörerischen Zielen des Nationalsozialismus alles unter, sämtliche personellen und materiellen Ressourcen. Er hat damit das Volk auf die Formel „Sieg oder Untergang“ eingestimmt.
Heute fordern sehr viele Menschen, auch zahlreiche wichtige europäische Intellektuelle und KünstlerInnen, einen sofortigen Waffenstillstand, aber das ist eine große gefährliche Lüge, eine trügerische Illusion, die ich den totalen Frieden nenne. Einen Frieden, der den Macht- und Gewaltabsichten des russischen Aggressors untergeordnet ist. Ein Frieden auf Kosten der freien Ukrainer. Frieden im Interesse der kleptokratischen Regime, die ihre schmutzigen Geschäfte mit der Kreml-Oligarchie gerne fortsetzen wollen.
Vor einem Jahr hat Russland die Schlacht in Kiew verloren, und das war ein Schock für Putin. Wäre das nicht passiert, hätten auch die Slowakei, Ungarn oder Rumänien einen neuen, beängstigenden, expandierenden Nachbarn bekommen, also auch die ganze Europäische Union.
Alice Schwarzer, Hanna Schygulla, Jürgen Habermas oder Valie Export haben höchstwahrscheinlich keine Ahnung, dass ihre Unterschriften und Aufrufe „die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen“ auf der übelsten Art und Weise auf unzähligen osteuropäischen Fake-News-Kanälen missbraucht werden. Sie verstehen die slawischen Fremdsprachen nicht, haben diese unkontrollierte soziale Desinformationsmedien, die Kreml massiv verbreitet, nie gelesen oder gesehen. Die Meldungen mit anerkannten alten weißen Frauen und Männern aus dem Westen Europas untermauern die Argumente gegen die russische Kriegsschuld.
Die Propaganda des Kreml freut sich riesig über die Rechtfertigungen für die völkerrechtswidrige Invasion. Manipulierte Erzählungengeben dem NATO eine bedeutsame Schuld an der Eskalation in der Ukraine, sowie behaupten, Putin wird mit Panzerlieferungen provoziert, nur EU und USA stehen dem Frieden im Wege und bereichern sich an den Sanktionen gegen Russische Föderation. Die populären Propagandaseiten fluten die verunsicherte Öffentlichkeit mit vielen unterschiedlichen, oft trivialen oder grotesken Erklärungen der komplexen Ereignisse, so dass sie das Gefühl hat, gar nichts mehr sicher zu wissen und keiner Quelle mehr vertrauen zu können. Die Sympathie für die Opfer von Butscha oder Irpin wird unmöglich gemacht.
„Kompromisse auf beiden Seiten machen“ und „Verhandeln heißt nicht kapitulieren“ lese ich im „Manifest für Frieden“ und traue meinen Augen nicht. Den Informationskrieg haben wir offensichtlich längst verloren. Die westlichen Staaten haben gegenüber russischen hybriden Bedrohungen die Geschlossenheit untereinander kaum gestärkt. Wie gut, dass Georgi Schukow in Stalingrad mit Friedrich Paulus nicht kompromissbereit war.
Der totale Krieg der Nazis war kein Krieg, sondern ein Völkermord. Der totale Frieden ist kein Frieden, weil er den russischen Genozid rechtfertigt und seine Fortsetzung zulässt. Der totale Frieden wäre ein Verrat an der Ukraine, unser gemeiner Dolchstoß nach neun Jahren des russischen Angriffskriegs. Friedensstifter, marschiert vor den russischen Botschaften in ihren Hauptstädten und schickt ihre Petitionen und Manifeste nicht an die Redaktionen westeuropäischer Medien, sondern an den Moskauer Kreml!
Michal Hvorecky, Bratislava
Donau, ein magischer Fluss
Grenzansichten
Wie der Ukraine-Krieg die Slowakei verändert I 3sat kulturzeit
Die 3sat-Kulturzeit spricht in der Reihe „Grenzansichten – Zwischen Krieg und Frieden“ mit Kulturschaffenden und Intellektuellen aus Ländern mit gemeinsamer Grenze zu Ukraine oder Russland darüber, wie sie die Situation erleben. Sie geben in der #kulturzeit Einblick in ihr Land, ihre Sorgen und ihren Alltag an den Grenzen zwischen Krieg und Frieden. Weitere Folgen der Reihe könnt ihr bei 3sat anschauen: https://kurz.zdf.de/u5N/
„Le Grand Tour“
Im Rahmen Frankreichs EU-Ratspräsidentschaft organisiert das Institut Français eine Reihe von Veranstaltungen zum Thema Literatur aus Europa. Das Projekt heißt „Grand Tour“ und ist von dem gleichnamigen Buch von Olivier Guez inspiriert.
„Im 18. Jahrhundert führte die „Grand Tour“ junge Adelige aus dem Norden Europas an die Küsten des Mittelmeers. So vervollständigten sie ihre Bildung und ihr Wissen in den Geisteswissenschaften. Deutlich bescheidener fällt unsere „Grand Tour“ aus: sie streift durch die europäische Fantasie und lädt ihre Leser zu Reisen ein, indem sie an Bord eines utopischen Trans-Europa-Expresses gehen – Züge kommen wieder in Mode, heißt es. Die „Grand Tour“ erzählt von Schicksalen, Städten und Landschaften. Sie untersucht das aktuelle Europa. Dabei führt die Reise oft in der Zeit zurück, denn wir sind ein alter Kontinent. Sie präsentiert einen nie dagewesenen Überblick über die zeitgenössische europäische Literatur, ein Selbstporträt Europas, gezeichnet durch seine Schriftsteller, die zu den besten des Kontinents gehören.“
Olivier Guez hat 27 andere namhafte Autor*innen der verschiedenen Länder Europas, jeweils einen pro Mitgliedsstaat, dafür gewinnen können, mit ihm «un Grand Tour», eine Reise durch Europa zu wagen und über bedeutende Orte der europäischen Geschichte und Kultur zu schreiben. Anlässlich der französischen Präsidentschaft der EU gibt er diese außergewöhnliche Anthologie heraus mit den bisher unveröffentlichten Erzählungen und Kurzgeschichten, in denen sich Erinnerungen, Blickwinkel und Stimmungen eines Europas aus Fleisch und Blut vermischen, in denen verschiedene Schriftsteller*innen Ihre Vision von Europa beschreiben. Damit entwirft er eine bewegende Landkarte des europäischen Geistes der frühen Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts.
An diesem Abend spricht Olivier Guez mit dem slowakischen Autor und Übersetzer Michal Hvorecky. Die Moderation übernimmt Frau Prof. Dr. Béatrice Jakobs vom Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Eintritt: 10,- / 7,- €
Veranstalter: Institut Français de Kiel / Bureau du livre / Literaturhaus SH

Zeit zuzuhören
Frankfurter Buchmesse 2021.
Geschichten aus aller Welt: Michal Hvorecky zu Gast bei Zeit zuzuhören Das Video-Projekt entstand in den Anfangstagen der Corona-Pandemie. Als Gegengewicht zu den Nachrichten der Bedrohung lud das Goethe-Institut Erzähler*innen aus aller Welt dazu ein, eine gute Geschichte zu erzählen. Anderthalb Jahre später ist eine reiche Sammlung an Videos entstanden, aufgenommen mit dem Handy, direkt von zu Hause. Einer der Beitragenden ist der slowakische Autor Michal Hvorecky, der in von einer außergewöhnlichen Bibliotheksbegegnung berichtet. Zeit zuzuhören-Kurator Thomas Böhm knüpft im Live-Gespräch daran an und fragt nach der besonderen Begegnung mit der Vergangenheit in Hvoreckys neuem Roman „Tahiti.Utopia.“